Wasserstoff und der britische Markt

Wasserstoff und seine Verwendung durch die Menschheit sind schon seit langem ein Thema. Wir verwenden Wasserstoff zur Veredelung fossiler Brennstoffe, als Ausgangsstoff für die Düngemittelherstellung und in großen Mengen in der Lebensmittelindustrie. In letzter Zeit hat sich die Diskussion über Wasserstoff jedoch von diesen eher industriellen Anwendungen auch auf den Energiesektor ausgeweitet. Regierungen rund um die Welt haben ambitionierte Pläne für die Entwicklung einer Wasserstoffwirtschaft vorgestellt, um sich als Erste in dieser mutigen (und blauen) neuen Welt als Erste eine Führungsposition zu sichern. Großbritannien bildet da keine Ausnahme: Wasserstoff spielt eine wichtige Rolle im kürzlich von Premierminister Boris Johnson verkündeten „10-Punkte-Plan für eine Grüne Industrielle Revolution“.

Warum also ist das Thema Wasserstoff derzeit in aller Munde?

Bei der Nutzung von Wasserstoff als Energieträger werden keine als Treibhausgas wirkenden Kohlenstoffverbindungen freigesetzt. Auch kann Wasserstoff mittels CO2-freier Verfahren (dann als „grüner Wasserstoff“ bezeichnet) oder CO2-armer Verfahren (sog. „blauer Wasserstoff“) erzeugt werden. Entscheidend ist, dass grüner (und auch blauer) Wasserstoff auch in anderen Industriezweigen eingesetzt werden kann und so zur Dekarbonisierung von Bereichen beitragen kann, in denen ein direkter Einsatz von Strom aus erneuerbaren Quellen nur schwer möglich ist. Er ist daher ein wichtiges Puzzlestück, um CO2-Emissionen zu verringern und den CO2-Fußabdruck eines Landes auf null zu senken.

Wie kann Wasserstoff ein wichtiger Teil der britischen Wirtschaft werden?

In der Wasserstoffwirtschaft geht es letztlich um zwei Probleme: das Problem des Angebots und das Problem der Nachfrage. Beide befinden sich noch in der Entwicklung und waren deshalb jahrzehntelang sehr beschränkt, da beide Seiten auf das Wachstum der jeweils anderen wartete. Aber nun kommt Schwung in die Sache, und Großbritannien bietet als Markt (und als Land) sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite große Chancen.

Die Frage des Angebots

Großbritannien hat jahrzehntelange Erfahrung in der Offshore-Öl- und -Gasindustrie und hat seinen Kontinentalschelf ausgiebig erforscht und kartiert. Rund um die Küstengebiete gibt es zahlreiche Raffinerien und erschöpfte Gasfelder, und obwohl sich der Schwerpunkt von der einheimischen Gasproduktion auf Erdgasimporte verlagert, ist diese Infrastruktur immer noch in gutem Zustand und rund um die Drehscheiben für den Erdgasimport konzentriert. Dieses Umfeld ist eine gute Ausgangsbedingung, um große Mengen an Wasserstoff zu produzieren, der benötigt wird, um mit einer sinnvollen lokalen Dekarbonisierung zu beginnen.

Die Methan-Dampfreformierung (SMR) und die autotherme Reformierung (ATR) sind Verfahren, mit denen unter Einsatz von Erdgas große Mengen an Wasserstoff erzeugt werden können. Die Ansiedlung von Wasserstoffanlagen an den bereits existierenden Drehscheiben der Erdgasversorgung bietet zwei Vorteile: Erstens können erschöpfte Gasfelder für die Speicherung des als Abfallprodukt entstehenden CO2 wiederverwendet werden, so dass dieser Wasserstoff CO2-arm erzeugt wird, und zweitens kann der erzeugte Wasserstoff direkt in das Erdgasnetz eingespeist werden (dazu später mehr). Die SMR-Technologie ist Jahrzehnte alt, funktioniert gut und wird seit langem in britischen Raffinerien eingesetzt.

Eine zweite Möglichkeit ist die Nutzung erneuerbarer Energiequellen zur Erzeugung von Wasserstoff mittels Elektrolyse, also der Aufspaltung von Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff. Die Elektrolyse kann mit Strom aus erneuerbaren Energiequellen, wie z. B. Solar- und Windstrom, durchgeführt werden und bietet zwei Vorteile: Zum einen wird so wirklich grüner Wasserstoff ohne CO2-Emissionen erzeugt und zum anderen wird Energie genutzt, die ansonsten möglicherweise ungenutzt verloren gehen würde. Abregelungen sind insbesondere für fluktuierende erneuerbare Energien wie Windkraft ein Problem, da der Wind eben nicht immer dann weht, wenn er gebraucht wird (und umgekehrt). Durch den Anschluss von erneuerbarer Erzeugungsleistung an Elektrolyseure kann der erzeugte Strom in jedem Fall genutzt werden, unabhängig davon, ob er gerade im Stromnetz benötigt wird oder nicht. Mit der Ankündigung des britischen Premierministers, die Offshore-Windkapazität bis 2030 auf 40 GW zu vervierfachen, und der Aussicht auf wettbewerbsfähige, subventionsfreie Offshore-Windenergie dürfte dieses Thema für Investoren und politische Entscheidungsträger noch dringlicher werden.

Manche von ihnen stellen die Notwendigkeit einer Netzanbindung bereits gänzlich in Frage und entwickeln wie beim Projekt Dolphyn Offshore-Windparks, die ausschließlich zur Erzeugung von Wasserstoff dienen. Dieses Projekt wurde kürzlich von der Regierung im Rahmen des „Low Carbon Hydrogen Production Fund“ gefördert, und die erste Demonstrationsanlage soll 2023 in Betrieb genommen werden.

Auf der Angebotsseite bestehen also sehr wohl Chancen. Wo kann dieses neue Angebot genutzt werden?

Ein anspruchsvolles Problem

Die Industrie Großbritanniens wird oft grob in sechs Industriecluster eingeteilt: Humberside, South Wales, Grangemouth, Teesside, Merseyside und Southampton. Diese Cluster liegen in Küsten- oder Flussnähe, weisen eine große Vielfalt an Industrien auf und sind wichtige Ziele der Dekarbonisierungsbemühungen. Die britische Regierung strebt an, bis 2030 mindestens einen CO2-armen Industrie-Cluster und bis 2040 mindestens einen Netto-Null-Cluster zu erreichen. Dies werden allerdings nur ferne Hoffnungen bleiben, wenn nicht in großem Umfang CO2-arme Energie oder Energieträger verfügbar gemacht werden können.

Auftritt Wasserstoff

Eine SMR- oder ATR-Anlage bildet eine große, zentralisierte Wasserstoffquelle, die die umliegenden Industrieunternehmen nutzen können, um ihre Emissionen zu reduzieren. Einige Industriecluster, wie Merseyside und Humberside, liegen in der Nähe von erschöpften Gasfeldern, die der SMR- oder ATR-Anlage als CO2-Senke dienen könnten. In vielen Industriezweigen (wie z.B. in der Stahlindustrie) wird bereits mit wasserstoffbefeuerten Alternativen zu den normalen Anlagen experimentiert, und es sind bereits Dachprojekte zur Koordinierung dieser Ansätze in den einzelnen Clustern entstanden. Die Regierung hat dies durch verschiedene Fördertöpfe für CO2-armen Wasserstoff und CO2-Abscheidung unterstützt. Zu den Zuwendungsempfängern zählen das Projekt Acorn in Aberdeenshire (das den Cluster in Grangemouth unterstützt) und das Projekt HyNet in Nordwestengland (Merseyside). Das Rennen um den ersten Netto-Null-Cluster ist eröffnet.

Abgesehen von der Industrie verfügt Großbritannien über ein ausgedehntes und relativ modernes Erdgasnetz. Es versorgt etwa 84 % der Haushalte des Landes mit Gas zu Heizzwecken, außerdem eine Vielzahl von Gasmotoren und Gasturbinen im ganzen Land. Wärme ist ein Energiesektor, in dem die Dekarbonisierung in Großbritannien in der Vergangenheit kaum vorangekommen ist. Daher liegt es nahe, dieses allgemeine Gasnetz zu dekarbonisieren, indem man dieses Erdgas teilweise (oder sogar ganz) durch grünen oder blauen Wasserstoff ersetzt. Dies ist sowohl theoretisch unkompliziert als auch mit nur wenig neuer Technologie möglich, und in zahlreichen Projekten wird die Veränderungsfähigkeit des Gasnetzes bereits erprobt. So wurde beispielsweise im Rahmen des Projekts HyDeploy 2019 mit Praxistests auf dem Campus der Universität in Keele begonnen, nachdem die britische Gesundheits- und Arbeitsschutzbehörde HSE die erste Ausnahmegenehmigung für die Einspeisung von Wasserstoff von bis zu 20 % des gesamten Gasnetzvolumens erteilt hatte. Mittlerweile ist im Rahmen des Programms „H21“ eine ganze Reihe von Projekten entstanden, die die Umstellung des Gasnetzes auf 100 % Wasserstoff untersuchen. Wenn sich die Wasserstoffeinspeisung als sicher und realisierbar erweist und mit geeigneten Subventionen unterstützt wird (ähnlich wie die Biomethaneinspeisung), könnte sie einen erheblichen Beitrag zur Dekarbonisierung des britischen Wärmesektors leisten. Es kommen bereits wasserstofftaugliche Heizungskessel und Gasturbinen auf den Markt, so dass diese Nachfrage kurz- und mittelfristig nicht verschwinden dürfte.

Ein weiteres Anwendungsgebiet für Wasserstoff ist der Mobilitätssektor, der ebenfalls nicht einfach zu dekarbonisieren ist und in dem sich in den letzten Jahren nur wenig bewegt hat. Der Straßenverkehr in Großbritannien war 2017 für etwa 21 % der gesamten Treibhausgasemissionen des Landes verantwortlich, wobei die absolute Menge seit 1990 sogar um 6 % gestiegen ist (1). Während frühe Versuche im Bereich der Wasserstoffmobilität von Luftschiffunglücken überschattet wurden, waren die jüngeren Bemühungen erfolgreicher, und verschiedenste Wasserstofffahrzeuge sind in der Entwicklung oder bereits verfügbar.

Ist Wasserstoff eine konkurrenzfähige Technologie? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, was man wohin transportieren möchte. Auf der Ebene der PKWs sind Elektrofahrzeuge die klaren Favoriten, zum Teil wegen der verfügbaren Auswahl für den Verbraucher und der komfortableren Ladeinfrastruktur. Die Hauptvorteile von Wasserstoff (kürzere Betankungszeiten und geringere Gewichts- und Raumnachteile mit zunehmender Reichweite) fallen hier nicht so sehr ins Gewicht wie seine derzeitigen Nachteile (Kosten und weniger Tankstellen). Für schwerere Fahrzeuge wie LKW und Busse sind die Vorteile jedoch weitaus wichtiger. Busse und manche LKW-Flotten (z.B. Fahrzeuge der Müllabfuhr) haben planbare Routen, die an Betriebshöfen starten und enden, was den Aufbau einer Betankungsinfrastruktur relativ einfach macht. London und Aberdeen haben bereits Demonstrationsflotten von Wasserstoffbussen, Liverpool und andere Städte werden in den nächsten Jahren folgen.

Eine weitere Option, bei der Wasserstoff neben elektrischen Alternativen eingesetzt werden kann, ist der Schienenverkehr. Die Elektrifizierung von Strecken ist teuer und lohnt sich zwar für die verkehrsreichsten Strecken, ist aber für Nebenstrecken und weniger stark genutzte Teile des Netzes nicht unbedingt sinnvoll. Die Züge auf diesen Strecken fahren derzeit größtenteils mit Diesel, können aber für den Betrieb mit Wasserstoff nachgerüstet (oder neu gebaut) werden. Ein Beispiel für einen solchen Nachrüstungsansatz ist der Breeze-Zug, der von Alstom an seinem Standort in Widnes entwickelt wurde und auf den Erfahrungen mit dem ebenfalls von Alstom auf dem Kontinent entwickelten wasserstoffbetriebenen iLint-Triebwagen aufbaut. Die erste britische Breeze-Flotte soll bis 2024 in Betrieb genommen werden, und bei Erfolg könnten diese Züge im ganzen Land eingesetzt werden. Wie Busse haben auch Züge feste Routen und vorhersehbare Betriebsabläufe, und Tankstellen wären daher einfach an die Wasserstoffversorgung anzubinden.

Neugierde und Chancen

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine britische Wasserstoffwirtschaft alles andere als ein abwegiger Plan ist. Die vorhandenen Stärken in den Bereichen erneuerbare Energien sowie Öl und Gas können für ein belastbares einheimisches Wasserstoffangebot sorgen, während die Netto-Null-Emissionsziele die Nachfrage antreiben werden. Dieses ausgewogene Verhältnis bringt Großbritannien in eine fast einzigartige Position unter den Wasserstoff-Vorreitern, da sich die meisten Länder nur auf eine Seite dieser Gleichung konzentrieren. So wird Australien für den Export produzieren, da der eigene Bedarf gering ist, während Deutschland und Japan vor dem genau entgegengesetzten Problem stehen und importieren werden müssen. Bei beiden Ansätzen ist das jeweilige Land auf ein anderes Land angewiesen. Nicht so in Großbritannien: Die einheimische Wasserstoffproduktion und der inländische Verbrauch könnten miteinander verbunden und so eine eigenständige und sich selbst tragende Wasserstoffwirtschaft geschaffen werden.

Bis sich Angebot und Nachfrage von lokalen Clustern zu einem ausgereiften Netz entwickelt haben, wird dies ein heikler Balanceakt sein. Kleine Veränderungen sind bereits im Gange, aber die Zeit der Pilotprojekte und der Erprobung im Demonstrationsmaßstab neigt sich dem Ende zu. Wenn Großbritannien seine Netto-Null-Verpflichtungen erfüllen und weltweit führend im Bereich Wasserstoff werden will, muss das Tempo erhöht und mit konkreten Entwicklungen begonnen werden. Manch einer fragt sich vielleicht, wie sinnvoll eine so große Veränderung in so kurzer Zeit sein mag und ob an der Spitze der dafür nötige Ehrgeiz vorhanden ist. Die Regierung jedenfalls scheint davon überzeugt zu sein, dass Wasserstoff eine Schlüsselrolle in der zukünftigen CO2-armen Welt spielen wird – und lässt Großbritannien nicht aus dem Rampenlicht entkommen.